Leseprobe - Bernhard Weißbecker

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Nass geschwitzt erwachte Danira aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie richtete sich auf von ihrem zerwühlten Lager und blickte verwirrt in die Dunkelheit. Immer noch hörte sie das Heulen des Windes, nun drang es allerdings nur noch leise durch die stabilen Wände des Hauses. Die Schatten des Traumes ängstigten sie, doch sie spürte, dass Selina in ihrer Nähe war. Und mehr noch spürte sie die überwältigende Gegenwart der Drachen. Nicht nur Goldschuppe war nahe – auch Steinschmelzer und seine Gefährtin Morgenglanz. Drachen! Die Drachen konnten nicht zur Stadt des Bösen vordringen, denn immer noch war der Bann nicht überwunden, den die Alten gewirkt hatten. Endlich erinnerte sich Danira. Sie befand sich in Drachenheim, der Siedlung, die Deryn und die Menschen von Car-Carioth gegründet hatten.
Ein plötzlicher Lichtschein flammte auf – der Schein eines Blitzes, der gedämpft durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden drang. Nur kurz währte das Licht, gerade lange genug, um Danira ihre Umgebung zu offenbaren. Ihr Schwert lag neben ihrem Lager, ihre Rüstung stand auf einem hölzernen Ständer bereit. Sie war allein in dem winzigen Raum, doch Selina und Loridan waren nicht weit entfernt. Sie wusste, dass in einem anderen Raum des gleichen Hauses weitere ihrer Gefährten schliefen – Timon und Tirandor, sowie die Drachenritter Tharcon und Engwyn. Wenige Augenblicke nach dem Licht des Blitzes dröhnte dumpfes Donnergrollen durch die Dunkelheit.
Eine Weile lag Danira grübelnd auf ihrem Lager. Die Schlacht in Car-Angoth lag nun schon drei Monate zurück. Viel war seitdem geschehen. Die ersten Wochen hatten sie in den Ruinen der alten Stadt verbracht, umgeben von düsteren Mauerresten und ebenso düsteren Erinnerungen. Sie hatte geglaubt, in diesen Mauern zu ersticken, Calidor und die Drachenritter hatten allerdings nicht abreisen wollen, solange noch verwundete Kameraden zu pflegen waren. Danira hatte viel Zeit an Tirandors Seite verbracht und ihm bei der Versorgung der Verwundeten geholfen, hoffend, dass sie ihrem Leben so einen neuen Sinn geben könnte. Erst die Königin hatte die Eintönigkeit der Tage unterbrochen. Jeslyn, die Schöne – ihre Ankunft in der zerstörten Stadt hatte die Herzen der Männer aufleben lassen und auch Danira war von ihrer Freundlichkeit eingenommen worden. Die Königin hatte lange mit Danira geredet und sie eingeladen, im Palast in Car-Tiatha zu leben. Doch Danira wusste, dass die Zeit ihrer Abenteuer noch nicht vorbei war. Timon hätte am liebsten sofort die Reise in den fernen Osten angetreten, zu dem geheimnisvollen Land, das er vor langer Zeit bereits gesucht hatte. Das Land, von dem nun auch der Engel gekündet hatte. Nur widerwillig hatte Timon akzeptiert, dass die Pläne der anderen weniger klar waren als die seinen. Denn viele Dinge mussten bedacht werden und man war übereingekommen, diese Reise nicht anzutreten, ohne zuvor noch einmal mit den Drachen gesprochen zu haben.
Einige Wochen hatten sie in Car-Osidia verbracht, genug Zeit, um Wunden und Entbehrungen heilen zu lassen. Timon hatte den Aufenthalt genutzt, um die Hinterlassenschaften des verschwundenen Hofzauberers zu durchsuchen. Calidor hatte ihm gestattet, alles mitzunehmen was ihm nützlich erschien. Dort in Car-Osidia hatten sie sich auch von Gerric verabschiedet, denn der junge Soldat hatte Calidors Angebot angenommen und war nun Offizier in den Truppen des Westreiches. Die folgende Reise in den Norden war lang und schwierig gewesen. Noch immer zogen versprengte Überreste des Heeres durch das Land, das die Stadt des Bösen verteidigt hatte. Zu ihrer Sicherheit hatte Calidor ihnen eine starke Eskorte mitgegeben, und so hatten sie das verwüstete Land unbehelligt passieren können. Wann immer sie auf Feinde trafen, zogen diese sich sofort zurück. Trotzdem wollte das Gefühl der Bedrohung niemals von ihnen weichen. Immer wieder hatten sie Flüchtlinge getroffen, die den Fall von Car-Carioth erlebt hatten. Immer wieder hatten sie nachts die grausamen Schrei der Dämonen gehört. Von dem Drachen des Bösen fehlte allerdings jede Spur. Danira war erleichtert, dass sie diesem furchtbaren Wesen nicht begegnet waren. Noch erleichterter war sie, als sie endlich in Drachenheim eingetroffen waren. Erst zwei Tage war dies nun her und Danira hatte gehofft, hier endlich ihre Nächte in friedlichem Schlaf verbringen zu können, dem war aber nicht so. Trotz des Gefühls der Sicherheit, das die Drachen ihr gaben, fühlte sie sich merkwürdig erregt und aufgewühlt. Wenigstens hatte sie hier viele alte Freunde getroffen, nicht nur Deryn, sondern auch Taric und seine Familie. Und noch viele andere. Nachdenklich erhob sie sich von ihrem Lager und tastete sich zur Tür des Hauses.
Sie fröstelte, als sie ins Freie trat. Seit dem großen Kampf war aus Sommer Herbst geworden und nun nahte bereits der Winter. Die Nacht war kalt und der Wind zerrte an der Decke, die sie um ihre Schultern gelegt hatte. Die Siedlung lag im Dunkeln, nur das Feuer eines Wachtpostens warf flackernden Schein an die Wände der Häuser. Tatsächlich gab es erst wenige Gebäude, die bereits so weit fertiggestellt waren, dass sie trotz des nahenden Winters bequeme Unterkunft bieten konnten. Die meisten Bewohner der Siedlung lebten nun in den verzweigten Höhlen des Berges, der das Zentrum von Drachenheim bildete.
Unschlüssig strebte Danira dem Licht entgegen, hindurch zwischen den dunklen Silhouetten halbfertiger Häuser, über die schmutzige Straße, die aufgeweicht war vom Regen. Noch immer fielen einzelne Tropfen aus dem dunklen Himmel herunter. Fernes Donnergrollen war zu hören und am südlichen Horizont flammte Wetterleuchten auf. Danira blickte nach oben und sie spürte, dass Goldschuppe nahe war, noch bevor sie seine Gestalt im Schein des Feuers auftauchen sah. Der junge Drache schwebte herunter, begleitet von einer Wolke wirbelnder Regentropfen und er landete direkt neben dem Mädchen.
»Goldschuppe, mein Bruder. Fühlst du es auch? Das Böse, gegen das wir kämpften – es ist nicht besiegt. Es regt sich wieder.«
***
© 2017 Bernhard Weißbecker
 
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