Leseprobe - Bernhard Weißbecker

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Kapitel 1 – Die Welt im 18. Jahrhundert

Leseprobe aus der Biographie "Das Uhrwerk des Mondes: Tobias Mayer und der Längenpreis"

Marbach am Neckar, 17. Februar 1723, zwischen 5 und 6 Uhr abends: In einem bescheidenen Haus in der heutigen Torgasse kommt ein kleiner Junge zur Welt und wird am folgenden Tag auf den Namen Tobias getauft. Tobias Mayer – den gleichen Namen trägt auch der Vater des Jungen, der als Wagner arbeitet, nebenbei aber auch einiges Geschick als Brunnenmeister bewiesen hat. Die Mutter heißt Anna Catherina, geborene Fink. Die Eltern, beide sind 1682 geboren, leben in schlichten, fast schon ärmlichen Verhältnissen, doch durch eine neue Arbeit in Esslingen erhofft sich der Vater eine Verbesserung der Lebensumstände.
Dies ist der Beginn einer bemerkenswerten Geschichte – die Geschichte eines Mannes, der alleine durch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in der Lage sein wird, seine Sterne neu zu ordnen. Tatsächlich widmet Tobias Mayer einen großen Teil seiner Arbeitszeit den Sternen, wird viele Nächte damit verbringen, ihre Positionen genau zu vermessen. Aus späterer Sicht wird er daher oft als Astronom bezeichnet, doch für ihn sind Mond und Sterne vor allem Hilfsmittel, um irdische Probleme zu lösen: Fragestellungen der Kartographie, denen er sich als Angestellter eines Landkartenverlages täglich zu widmen hat, und die Tücken der Navigation, die für die expandierenden europäischen Seemächte immer wieder Verluste von Schiffen, kostbaren Ladungen und Mannschaften bedeuten.
Doch bevor wir uns dem Leben von Tobias Mayer widmen, wollen wir versuchen, uns in seine Zeit zu versetzen, und wir wollen die Welt betrachten, die er in seinen Landkarten beschreiben wird:

Die Menschen des 18. Jahrhunderts haben bereits ein recht klares Bild von der Erde, auf der sie leben. In der Zeit, als Tobias Mayer geboren wird, liegt die erste Weltumsegelung fast genau 200 Jahre zurück. Im Jahr 1519 war der portugiesische Seefahrer Ferdinand Magellan (eigentlich Fernão de Magalhães), nun in spanischen Diensten, mit fünf Schiffen zu seiner legendären Reise aufgebrochen. Nur eines der Schiffe gelangte 1522 nach Spanien zurück, die anderen waren verloren, und auch Magellan selbst überlebte die Reise nicht.
Trotzdem sind große Teile der Erdkugel noch unbekannt, insbesondere in den Weiten des Pazifischen Ozeans. Seit der Antike ging man aufgrund theoretischer Überlegungen davon aus, dass im Süden der Erde ein weiterer großer Kontinent liegen müsse, ein Land, dem Ptolemäus den Namen "Terra australis incognita" gegeben hatte. Tatsächlich waren niederländische Seefahrer zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Pazifik auf eine unbekannte Küste gestoßen, sie hatten deren Verlauf aber nicht sehr weit erkundet. Im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie durchstreifte Abel Janszoon Tasman (1603–1659) von 1642 bis 1643 den Pazifik, um die Ausmaße des neuen Landes abzuschätzen – diese Reise führte ihn um den gesamten australischen Kontinent herum, ohne auch nur einmal dessen Küste zu erblicken. Immerhin entdeckte er als erster Europäer das später nach ihm benannte Tasmanien und Neuseeland. Die Berichte über Australien waren offenbar nicht sehr einladend, denn auch zu Mayers Zeit ist lediglich ein Teil seiner nördlichen Küste bekannt, und niemand hat sich die Mühe gemacht, das Landesinnere zu erforschen.
Von den übrigen Kontinenten sind zumindest die Küstenlinien kartographiert, auch wenn die Genauigkeit der Landkarten eben nur so präzise ist, wie die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Positionsbestimmung es zulassen. Und auch die polaren Regionen, wo mutige Seefahrer vergeblich nach der Nordost- und der Nordwest-Passage suchen, sind immer noch weitgehend unerforscht.
Fahrten über den Atlantik oder der beschwerliche Seeweg um Afrika herum nach Indien und China sind längst zur Routine geworden, denn Europa giert nach Kolonialwaren wie Tabak, Tee und Kakao. Die Schiffe, mit denen sich die Seefahrer über die Ozeane wagen, sind meist zwischen 25 und 50 m lang, auch Handelsschiffe sind oft mit Kanonen bestückt, um die kostbare Fracht zu verteidigen.

Eine der Gefahren dieser weiten Reisen scheint gebannt: Der letzte "große" Piratenkapitän, Bartholomew Roberts, wurde 1722 im Kampf getötet. Doch die Routine der langen Fahrten schließt auch die scheinbar unvermeidlichen Verluste durch Schiffbruch und Skorbut mit ein, denn noch immer ist es unmöglich, die Position eines Schiffes auf See genau zu bestimmen. Nicht nur die dafür nötigen Methoden fehlen, auch präzise Winkelmessinstrumente wie der Spiegelsextant sind noch nicht erfunden.
Im Jahr 1714, wenige Jahre vor Mayers Geburt, stellte ein Parlamentsbeschluss der englischen Regierung für die Erfindung einer Methode zur Bestimmung des Längengrades auf See eine hohe Belohnung in Aussicht. Es ist nicht der erste Preis, der für die Lösung dieses Problems ausgeschrieben wurde, aber es ist der höchste – bis zu 20.000 englische Pfund, falls die Positionsbestimmung auf einen halben Längengrad bzw. 30 Seemeilen genau ermöglicht wird. Die Höhe dieses Betrages wird deutlich, wenn wir sie mit dem Gehalt eines Professors vergleichen: Etwa 270 Jahre hätte Tobias Mayer mit seinem späteren Einstiegsgehalt an der Universität Göttingen arbeiten müssen, um die gleiche Summe zu verdienen. Nach heutiger Entsprechung, gerechnet in Euro, käme dies einem zweistelligen Millionenbetrag gleich.

Doch nicht nur die Weiten des Meeres bergen Rätsel, auch im Inneren der großen Landmassen zeigen die Landkarten noch die berüchtigten "weißen Flecken", insbesondere in Afrika, aber auch weite Teile Amerikas sind nur aus Berichten der Ureinwohner bekannt, und diesen wird nur bedingt Glauben geschenkt. Die englischen Siedlungen in Nordamerika erstrecken sich an der Ostküste entlang und sind kaum über die Appalachen hinaus vorgestoßen. Das Zusammentreffen mit den sogenannten Indianern ist von Rassismus und religiösem Fanatismus geprägt. Lediglich im "wilden" Westen leben die Ureinwohner noch unbehelligt von den europäischen Einwanderern.
Viele bedeutende Entdecker bezahlen ihren Forscherdrang mit dem Leben, aber tödliche Gefahren lauern auch zu Hause. Immer noch stirbt jedes fünfte Kind, bevor es ein Jahr alt ist, nur etwa die Hälfte der Kinder wird älter als fünfzehn Jahre. Die Erreger der Krankheiten – Bakterien und Viren – sind noch unbekannt, Impfungen gibt es nicht. Von 1709 bis 1711 ging die Pest mit verheerenden Folgen in Ostpreußen um, im Jahr 1720 folgte ein Ausbruch in Marseille und der Provence, der 1722 endete, gerade ein Jahr vor Mayers Geburt.
Aber andere Krankheiten bleiben allgegenwärtig: Pocken, Typhus, Cholera oder Ruhr fordern ständig ihre Opfer, insbesondere in Zeiten des Krieges oder unter den Armen, die durch Hunger und Kälte geschwächt sind. Und es gibt viele Arme zu dieser Zeit, immer noch leidet das Land unter den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, der nun schon über siebzig Jahre zurückliegt. In Göttingen, wo Tobias Mayer Professor werden wird, sieht die Lage zum Beginn des 18. Jahrhunderts trostlos aus. In einer zeitgenössischen Darstellung findet sich folgender Eintrag [Sonne 1834]: "Um 1690 war der Bürger noch in Stumpfheit versunken; seine elenden Wohnungen starrten, wie die ganze Stadt, von Schmutz; kein fahrbarer Weg führte zu der Stadt." In den folgenden Jahren besserte sich die Lage, doch erst die Begründung der Göttinger Universität in den Jahren 1732-34 durch Georg II. August, König von Großbritannien und Kurfürst von Hannover, sollte den entscheidenden Aufschwung bringen.
 
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