Der erste Drache - Bernhard Weißbecker

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Der erste Drache

Monographien > Brüder der Drachen
"Der erste Drache" ist eine Kurzgeschichte, die etwa 120 Jahre vor dem Roman "Brüder der Drachen" angesiedelt ist.

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Der erste Drache

Grüßend hob Gingarod sein Schwert König Gwyldon entgegen; das Licht der Sonne ließ die blanke Klinge glänzen. Die Spiegelung blendete den Ritter für einen Moment, und das feine Muster magischer Symbole, das die Waffe bedeckte, schien sich in seine Augen einbrennen zu wollen.
„Reitet nun!“, rief der König vom Balkon des Palastes hinunter. Trotz seiner grauen Haare war er immer noch eine stattliche Erscheinung, gekleidet in einen goldverzierten Waffenrock und gegürtet mit einem Schwert. „Unsere Gebete und unsere Gedanken begleiten Euch.“
Gingarod senkte sein Schwert, schob es in die Scheide zurück. Immer noch tanzte ein Nachklang des Lichtes in seinen Augen, feurige Visionen, in denen sich Bilder von mächtigen Klauen und Flügeln formten. War es wirklich nur ein blendendes Licht gewesen, oder hatte er einen Teil der Magie der Waffe gespürt?
Eine Hand legte sich schwer auf seine gepanzerte Schulter, und er wandte sich zu seinem Schwertbruder Coriad um, der genauso gerüstet und bewaffnet war wie er selbst. Auch in ihrem Aussehen ähnelten sie sich – mittelgroß, mit kurzen dunklen Haaren, kaum mehr als zwanzig Jahre alt. Neben ihnen stand Varadon, Held vieler Schlachten und Meister der neu gegründeten Gilde der Drachentöter. Ihre schwarzen Umhänge flatterten im Wind, als sie sich umwandten und dem Rand des Burghofs entgegenstrebten, wo ihre blau-grau gefleckten Reitechsen von Knechten bereitgehalten wurden. Die Gilde der Drachentöter – ein hochtrabender Name für einen kleinen Haufen von Männern, die noch nie einem Drachen im Kampf gegenübergestanden hatten.
Bei den Tieren warteten auch Baldan und Hadogan, die zweite Schwertbruderschaft der Drachentöter – ungerüstet, aber mit den gleichen schwarzen Umhängen. Und Lyssa war bei ihnen, Coriads junge Frau. Mit gemischten Gefühlen sah Gingarod zu, wie sich die Liebenden in inniger Umarmung verabschiedeten. Dann schwangen sich die fünf Männer auf ihre Tiere, und ohne weiteres Zögern ritten sie zwischen den Menschen hindurch, die sich auf dem Burghof gesammelt hatten – Soldaten der Garnison, Knechte, Küchenmägde und andere Bedienstete. Verhaltene Beifallsbekundungen begleiteten sie, als sie das Tor passierten, das aus der königlichen Festung hinaus in die Stadt Car-Tiatha führte.
Die Menschen in den Straßen machten den fünf Reitern respektvoll Platz, und doch schien keiner von ihnen zu wissen, dass sie Zeugen des Beginns einer neuen Welt waren – einer Welt, in der die Menschen endlich gegen die Übermacht der Drachen zurückschlagen würden.
Varadon, der die Gruppe anführte, lenkte seine Echse in stille Seitenstraßen, denn auf dem Marktplatz war das Gedränge der Menschen so dicht, dass für die Reiter kaum ein Durchkommen war. Nachdenklich musterte Gingarod die Männer und Frauen, die unbekümmert ihren Geschäften nachgingen. Nichts wies hier darauf hin, dass kaum weiter als eine Tagesreise im Westen das Reich der Drachen begann – ein Landstrich, in dem die Städte der Menschen nun verlassen und dem Verfall preisgegeben waren.
In den ersten Jahren nach dem Angriff der geflügelten Bestien hatte es eine Hungersnot gegeben, denn Scharen von Flüchtlingen waren zur Stadt des Königs gekommen. Nun war die Normalität zurückgekehrt, und nur wenig hatte sich verändert. Vielleicht gab es auf dem Markt der Stadt ein paar Waren weniger als zuvor – die kleinen Kunstwerke aus Glas, die aus Car-Carioth stammten, und die Fische aus der nördlichen See, die von Händlern aus Car-Elnath gebracht worden waren.
Vier Städte des Reiches waren vom Feuer verzehrt worden, doch in all der Zeit hatten die Drachen sich nie der Hauptstadt Car-Tiatha genähert. Niemand wusste, was die Bestien nun seit drei Jahrzehnten davon abhielt, ihr Werk der Vernichtung weiter fortzusetzen. Die Hauptstadt schien sicher zu sein, genauso wie Car-Osidia und andere Städte weit im Westen. Eine Spur der Verbitterung stahl sich auf Gingarods Lippen. Egal, wie seine Reise enden würde – für die Menschen in Car-Tiatha würde es nicht viel ändern, denn die Drachen waren ohnehin nur eine düstere Legende für sie.
Bald ritten die fünf Reiter durch das Stadttor auf die alte Handelsstraße hinaus, die den großen Städten des Westens entgegenstrebte. Entlang des Weges sah Gingarod behelfsmäßig errichtete Hütten und Häuser, und nun wich die Verbitterung in seinem Gesicht einem Zug grimmiger Entschlossenheit. Die Vorstadt war von den Flüchtlingen erbaut worden, die vor den Drachen geflohen waren. Dreißig Jahre war dies nun her, und noch immer hausten die Menschen und ihre Nachkommen in ihren elenden Quartieren – dreißig Jahre, in denen alle Versuche gescheitert waren, den Kampf gegen die Drachen aufzunehmen. Ganze Kompanien von schwer gepanzerten Bogenschützen waren aufgerieben worden, auf Wagen montierte Speerschleudern hatten vergeblich ihre Geschosse in den Himmel getrieben. Erst der Thaumaturg Sarngrim hatte neue Hoffnung gebracht. Seine Rüstungen würden dem Drachenfeuer trotzen, und seine Schwerter würden den Zauber des Dunklen Gottes brechen, der die Drachen schützte – so hatte Sarngrim es versprochen.
Die fünf Reiter gelangten zu einem Haus, vor dem ein grauhaariger Mann in zerschlissener Kleidung saß und mit einer Ahle Löcher in ein Stück Leder stach. Als er die Reiter erblickte, stieß er einen Ruf aus, dann stand er auf und trat an die Straße heran. Aus dem Haus liefen eine Frau und ein Mädchen heraus und gesellten sich zu ihm.
Varadon ließ seine Echse halten und blickte auf den Mann hinunter.
„Folwyc, alter Freund“, sagte der Gildenmeister. „Es ist soweit, die Stunde der Vergeltung ist endlich gekommen.“
„Ich wünsche Euch Glück“, sagte der Mann. „Die Drachen haben einst alles zerstört, was mir gehörte. Lange habe ich auf diesen Tag gewartet.“
„Das Warten war nicht vergebens. Wir haben Männer wie Euch gebraucht, die uns von den Drachen berichten konnten. Für Euch werden wir nun in den Kampf ziehen.“
„Nein, nicht für mich“, Folwyc lächelte. „Ich bin alt und habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Für meine Tochter Alina sollt Ihr kämpfen, sie ist jung und träumt von einer glücklicheren Zukunft.“
„Das wollen wir tun“, sagte Gingarod, und er sah auf das Mädchen herunter, das schüchtern den Blick senkte. Nein, sie war kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau, schlank und schön, doch in armselige Kleidung gehüllt. Dann hob sie plötzlich ihr Gesicht, ihre Augen trafen sich, und in diesem einen Blick lag mehr, als Worte ausdrücken konnten.
„Bitte, kommt heil zurück“, flüsterte sie, dann wandte sie sich um und verschwand in dem kleinen Haus.
Gingarod blickte ihr hinterher, doch schon hatte Varadon seine Echse weitergetrieben, und die anderen Ritter folgten ihm. Der Weg war inzwischen gesäumt von Menschen, zwischen denen eilig eine Nachricht weitergetragen wurde: Der Kampf gegen die Drachen würde beginnen!
Die Rufe begleiteten die Ritter, bis sie die zerfallenen Häuser hinter sich gelassen hatten. Und Gingarod war sich bewusst: Für diese Menschen würde er den Kampf gegen die Drachen aufnehmen und besonders für eine junge Frau namens Alina. Er trieb seine Echse an, um zu Coriad aufzuschließen, und er sah die gleiche Entschlossenheit auch in den Zügen seines Schwertbruders. Mit einem Grinsen schüttelte er seinen Kopf. Nur Coriad und er selbst trugen die wunderbar leichten Rüstungen der Drachentöter, denn der Thaumaturg hatte über ein Jahr gebraucht, um die ersten beiden Ritter der Gilde auszustatten. Der Bund der Drachentöter war fürwahr eine armselige Truppe, doch nun hatte der König auf eine Demonstration der neuen Waffen gedrängt. Wenn sie gelang, würde er die Gilde zweifellos mit genügend Gold überschütten, um viele Ritter mit Waffen und Rüstungen zu versorgen. Sollte die Demonstration misslingen … – Gingarod verzichtete darauf, den Gedanken zu Ende zu führen.
Sie folgten der Straße, bis sie am Abend ein kleines Dorf erreichten, wo sie in den einzigen Gasthof einkehrten, den sie dort vorfanden. Es waren nicht viele Menschen in der Gaststube, denn der Handel entlang der großen Straße war seit dem Angriff der Drachen zum Erliegen gekommen. Westlich des Dorfes gab es nur noch ein paar vereinzelte Bauernhöfe, deren Bewohner in ständiger Angst lebten, und dahinter begann das Reich der Drachen.
Bei ihrer Mahlzeit sprachen die fünf Ritter über belanglose Dinge. Schließlich ließen sie sich von dem Wirt eine Kammer zuweisen, in der sie die Nacht verbrachten. Düstere Träume suchten Gingarod heim, und im ersten Licht der Dämmerung erhob er sich von seinem Lager. Während sie ihr Morgenmahl einnahmen, drang das Licht der Sonne strahlend hell durch ein Fenster der Gaststube. Keiner von ihnen sprach, bis Varadon mit einem Seufzen den Becher grüßend seinen Gefährten entgegenstreckte.
„Nun ist die Zeit gekommen, da wir uns trennen müssen. Möge eure Reise glücklich sein.“
Gingarod und Coriad umarmten ihre Gefährten und ihren Gildenmeister, dann verließen sie das Haus und traten zu ihren Echsen, um den gefährlichsten Teil der Reise zu beginnen.
Gras und Buschwerk hatten längst begonnen, die kaum benutzte Straße zu überwuchern, die von dem Dorf weiter in den Westen führte. Kein einziger Reisender war zu sehen, doch auf einem Feld, an dem sie vorüberkamen, unterbrachen zwei Bauern ihre Arbeit, um den beiden Rittern mit unverhohlener Neugier hinterherzublicken.
Sie ritten weiter die Straße entlang, die nun nur noch von Lebensmüden und Glücksrittern benutzt wurde. Von Zeit zu Zeit wagten sich junge Soldaten auf den langen Weg durch das Land der Drachen, ängstlich, jede Deckung nutzend, um Botschaften des Königs nach Car-Osidia oder nach Car-Carioth zu überbringen. Wenn die Boten von dieser Reise heil zurückkehrten, wurden sie vom König reich belohnt, daher gab es immer genügend Freiwillige, die die Gefahr auf sich nahmen. Gingarod und Coriad hatten keine Botschaft zu überbringen, ihr einziges Ziel war es, einem Drachen gegenüberzutreten und ihn zu töten.
Sie ritten nur langsam, denn es war nicht ihre Absicht, tief in das Land der Drachen einzudringen. Vor ihnen stieg das Gelände gemächlich an, und nicht weit entfernt sahen sie einen flachen Hügel – einen ersten Vorboten des Hügellandes, das sich im Westen bis zu den Drachenbergen ausbreitete. Die beiden Ritter lenkten ihre Echsen den Hang hinauf, bis sie die Kuppe erreichten, auf der sie die Ruinen eines alten Wachturmes vorfanden. Nebeneinander setzten sie sich so auf die Mauerreste, dass Gingarod nach Norden und Coriad nach Süden blickte. Sie teilten sich Wasser aus einem Schlauch und aßen ein paar Bissen Trockenfleisch. Es war eine freudlose Rast, und bald beschlossen sie, ihren Weg durchs Drachenland fortzusetzen.
Als sie zu ihren Reittieren traten, zischten diese unruhig und gaben klagende Laute von sich. Die empfindsamen Craith-Echsen hatten schon manchem Reisenden das Leben gerettet, denn mit einem seltsamen, unbekannten Sinn erspürten sie die Nähe der Drachen. Gingarod tauschte einen Blick mit seinem Schwertbruder und entfernte sich wieder von den Echsen, die Augen zum Himmel erhoben.
Dann erblickten sie den Drachen: Er kam von Norden her und näherte sich rasch. Schon sahen die beiden Ritter, wie sich die Flügel in einem gemächlichen Rhythmus hoben und senkten. Als sie den Flug des Drachen mit ihren Blicken verfolgten, erkannten sie, dass sein Kurs ihn westlich des Hügels vorbeiführen würde.
Gingarod zog sein Schwert aus der Scheide hervor und reckte es in die Höhe – eine tollkühne Geste der Herausforderung, so als würde eine Strohechse dem Narvi-Vogel am Himmel zuwinken. Vielleicht war es ein Reflex des Sonnenlichts auf der blanken Klinge, vielleicht war es auch Zufall, dass der Blick des Drachen die beiden Gestalten auf dem Hügel traf. Doch plötzlich erkannten die Ritter, dass die Bestie ihren Kurs änderte und direkt dem Hügel entgegenstrebte, auf dem sie standen. Sie hatten bereits zuvor das Land der Drachen erkundet, hatten im Verborgenen diese schrecklichen Wesen beobachtet, doch nun gab es kein Versteck, keine Möglichkeit mehr zur Flucht. Noch nie waren sie einem Drachen so nahe gewesen – der lange biegsame Hals war nun zu erkennen und der mächtige Kopf, der immer auf die beiden Ritter gerichtet blieb, auch wenn die Kreatur sich nun in einer geschwungenen Bahn näherte, so als wolle sie zunächst die Umgebung erkunden. Gingarods Herz begann wild zu schlagen – endlich war es also soweit; die Herausforderung war ausgesprochen, nun würde es zum Kampf kommen.
„Folwycs Tochter“, sagte Coriad; seine Stimme klang dumpf unter dem Metall des Helms hervor. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“
Gingarod sah nicht zu ihm hin, stellte sich nur das spöttische Lächeln und die blitzenden Augen seines Freundes vor, die ohnehin unter dem Helm verborgen waren. Wie konnte er in diesem Augenblick auf solche Gedanken kommen?
„Ja“, sagte er. „Sie gefällt mir.“
„Dann denke an sie, und hoffe, dass du zu ihr zurückkehrst. Viel Glück, mein Bruder.“
„Viel Glück“, murmelte Gingarod, dann entfernten sie sich voneinander, zwanzig Schritte, so wie sie es zusammen mit Varadon einstudiert hatten.
Der Drache war heran, flog an ihnen vorbei, noch immer weit über ihnen. Gingarod schaute fasziniert hinter dem Wesen her. Schon konnte er die geschuppte Haut und die mächtigen Klauen erkennen – Klauen, die seine Rüstung zerreißen konnten wie Pergament. Einen Moment stieg die Angst in ihm hoch, und er wünschte sich, irgendwo weit weg zu sein, in einem Land, wo es keine Drachen gab. Doch dann zwang er sich zur Ruhe – zu überleben war das Einzige, das nun noch zählte. Zu überleben und nach Hause zurückzukehren, um seine Freunde wiederzusehen – und die schöne Alina.
Noch einmal flog die Bestie heran und nun stieß sie einen durchdringenden Schrei aus. Das Geräusch fraß sich in Gingarods Kopf, drohte, ihn in Panik zu versetzen, doch schon hatte der rasche Flug des Drachen ihn wieder vorbeigetragen. Er zog eine enge Schleife und nahm erneut Kurs auf den Hügel. Nun flog er niedriger, und als er über den beiden Rittern angelangt war, stieß er eine Wolke von Feuer aus seinem Maul. Gingarods Herz schien stehen zu bleiben in diesem kurzen Augenblick, als die Flammen ihm entgegenschossen. War dies das Ende? Dann sah er das Feuer direkt vor dem Sehschlitz seines Helms; die Luft, die er aufgeregt einatmete, war warm und roch nach Rauch. Die Erkenntnis, dass der Zauber seiner Rüstung offenbar der Macht des Drachen trotzen konnte, weckte ein kurzes Glücksgefühl, das aber sogleich von einer neuerlichen Panik abgelöst wurde. Für einen Moment war Feuer alles, was der Ritter sehen konnte, und er fühlte sich dem Drachen schutzlos ausgeliefert. Doch dieser schien seinen raschen Flug nicht bremsen zu können, und mit ihm zog auch das Feuer weiter.
Als die Flammenwolke sich auflöste, blieb nur Rauch zurück, der von dem versengten Gras der Hügelkuppe aufstieg. Coriad stand nahebei, und durch sein hochgerecktes Schwert signalisierte er, dass auch er das Feuer wohlbehalten überstanden hatte. Doch am Rande der Kuppe, wo das Gras immer noch schwelte, senkte sich in einer Wolke aus Rauch der Drache herunter. Er hatte die Schwingen weit ausgebreitet und die klauenbewehrten Beine ausgestreckt. Aufgeregt verfolgte Gingarod das majestätische Schauspiel. Die Haut an der Brust des Drachen schien weniger stark gepanzert zu sein als seine Flanken und sein Rücken. Sein Rumpf war kaum länger als fünf Schritte eines Mannes, doch mit dem biegsamen Hals und dem langen Schwanz war die Bestie mehr als doppelt so lang.
Zweimal klopfte Gingarod mit der Faust gegen seinen Brustpanzer, das Zeichen zum Vorrücken. Er selbst näherte sich dem Drachen von der linken Seite, während Coriad sich nach rechts wandte. Die monströse Kreatur bewegte sich nicht, schaute den Rittern entgegen und stieß erneut ihren Schrei aus.
Gingarod widerstand dem Drang, sich den Helm vom Kopf zu reißen und die Hände an die Ohren zu pressen. Langsam strebte er weiter nach links, um den Drachen von Coriad abzulenken. Sie hatten dieses Manöver genau einstudiert, doch nun kam der Moment der Wahrheit – die erste Erprobung ihrer Strategien im wirklichen Kampf. Gingarod machte sich bereit, dem Riesenwesen auszuweichen, und schon schwenkte dessen schuppiger Kopf auf ihn zu. Im Zurückweichen schlug der Ritter mit seinem Schwert gegen die Seite des Schädels, doch seine Klinge prallte wirkungslos von den harten Hornschuppen ab. Wann würde sich die magische Macht der Waffe offenbaren?
Der Drache stieß einen kurzen Schrei aus und wirbelte herum. Coriad! Er musste den Drachen auf der anderen Seite attackiert haben. Ohne zu wissen, ob sein Schwertbruder den Drachen verletzt hatte und selbst dem ungestümen Gegenangriff entgangen war, setzte Gingarod nach. Die gewaltige Masse des Wesens ragte vor ihm auf, und fast hätte ihn ein Schlag des Flügels getroffen, der ihm groß wie das Segel eines Schiffes erschien. Er stieß sein Schwert gegen die ledrige Haut eines Hinterbeines, dessen Schenkel fast so hoch aufragte wie er selbst. Die Klinge schnitt durch die Haut hindurch, doch sie konnte nicht tief genug eindringen. Wieder schrie der Drache auf, und mit einem kräftigen Flügelschlag hob er seinen Körper an, schwang sich herum.
Gingarod erkannte die Gefahr zu spät, denn schon raste der Schwanz der Bestie auf ihn zu. Von einem heftigen Stoß getroffen, wurde der Ritter zur Seite geschleudert und fiel zu Boden. Mühevoll erhob er sich, doch schon kam ihm das aufgerissene Maul des Drachen bedrohlich nahe. Er sah die Reihen der scharfen Zähne, sah die harten Hornschuppen, die grau gefärbt waren und ein feines Muster aus rötlichen Flecken aufwiesen. Im letzten Moment wich Gingarod zur Seite und stieß sein Schwert von unten gegen den biegsamen Hals der Bestie. Die Klinge durchdrang die lederartige Haut und biss tief in das darunter liegende Fleisch. Der Drache riss seinen Kopf hoch und zur Seite, ein gurgelnder Schrei drang aus seinen Mund. Beinahe wäre das Schwert aus Gingarods Hand gerissen worden, doch er konnte es festhalten, und als die Klinge sich aus der Wunde löste, folgte ihr ein Schwall dunklen Blutes.
Durch die Heftigkeit der Bewegung geriet der Ritter aus dem Gleichgewicht, und er taumelte ein paar Schritte nach hinten, bis er sich wieder fangen konnte. Von seiner neuen Position aus konnte er Coriad erkennen, der sich mit erhobener Waffe der Flanke des gewaltigen Wesens näherte. Als er auf sein eigenes Schwert blickte, sah Gingarod, dass die magischen Symbole unter dem Drachenblut, das sie befleckte, in einem eigenen Licht erglühten.
Plötzlich schlug der Drache mit seinen weit ausladenden Schwingen, und sein Körper hob sich zwei Schritte hoch über den Boden. Wollte er sich zurückziehen und den Kampf beenden? Doch dann senkte sich die Masse des gewaltigen Körpers auf Coriad herunter, und Gingarod hörte den wuchtigen Aufprall gegen die Rüstung seines Schwertbruders. Sein Gefährte verschwand aus seinem Blickfeld, als der Drache sich zwischen sie schob, und Gingarod fürchtete um Coriads Leben.
Mit einem unartikulierten Aufschrei stürzte er nach vorne, sein Schwert mit beiden Händen umklammernd. Er sah, wie sich der Kopf des Drachen auf Coriad heruntersenkte, der bewegungslos am Boden lag. Gingarod stieß das Schwert seitlich in den Hals des Drachen, dort, wo die hornigen Schuppen des Kopfes endeten. Dieses Mal wurde das Schwert aus den Händen des Ritters gerissen, als der Kopf ruckartig nach oben fuhr.
Der Drache stieß einen schrecklichen Schrei aus und wich zurück. Aus den beiden Wunden in seinem Hals tropfte schwarzes Blut hervor. Er blickte auf Gingarod hinunter, und dieser konnte seine Augen nicht von denen des Drachen abwenden. Fast schien es dem Ritter, als würde er in den Augen des Drachen die gleichen Gedanken erkennen, die auch ihn beschäftigt hatten – der Wunsch, an einem anderen, einem friedlichen Ort zu sein. Doch dann tauchte das Bild Alinas in seinem Geist auf, und er wusste, er musste diesen Kampf für sie gewinnen. Nicht weit entfernt lag Coriad reglos am Boden. War er verwundet oder schon tot?
Der Drache löste sich zuerst aus seiner Starre und spie dem Ritter seinen Feueratem entgegen. Geblendet von den Flammen wich Gingarod instinktiv zur Seite, und schon spürte er einen harten Stoß an seiner Schulter, der ihn taumeln ließ. Als sein Blick wieder klar wurde, sah er den Drachen über sich. Er rollte sich zur Seite, als eine Klaue nach ihm schlug. Dann lag plötzlich das Schwert seines Gefährten dicht bei ihm, und Gingarod eilte sich, die Waffe an sich zu reißen. Er tauchte unter der Klaue hindurch, die auf ihn zuschoss, sprang zwei Schritte nach vorne und stieß das Schwert durch das Auge des Drachen tief in seinen Kopf. Ein Ruck ging durch das Riesenwesen, dann sank es in sich zusammen und blieb reglos liegen.

*

Tränen liefen über Gingarods Wangen, als er seine Echse durch die Vororte von Car-Tiatha lenkte. Hinter sich am Zügel führte er die zweite Reitechse mit Coriads leblosem Körper. Die Menschen in den Straßen jubelten ihm zu, sobald sie ihn kommen sahen, doch schnell verstummten sie wieder, wenn sie den toten Ritter erblickten. Varadon ritt voraus, so wie bei ihrem Auszug aus der Stadt, und Gingarod folgte seinem Gildenmeister, ohne selbst auf den Weg zu achten. Als sie an Folwycs Haus vorüberritten, fühlte er Alinas Blicke auf sich haften, doch er wandte sich nur kurz zu ihr um und setzte seinen Weg in die Stadt fort. Als sie das Stadttor erreichten, hatte sich dort bereits eine Menschenmenge gesammelt – die Nachricht ihres Kommens schien ihnen vorausgeeilt zu sein. Aber mitten im Torweg stand eine einzelne Gestalt, eine junge Frau. Gingarod erkannte, dass es Lyssa war, und sie sah ihn, sah die zweite Reitechse mit dem leblosen Ritter. Mit einem Aufschrei kam sie heran, klammerte sich an ihren toten Mann, ihr Gesicht verzerrt von Schmerz und Trauer. Als Gingarod sie ansah, schien ihr Gesicht plötzlich zu Alinas Gesicht zu werden, und er fühlte einen Stich in seinem Herzen. Nein, niemals sollte Alina ein solcher Schmerz zugefügt werden! Und ihm wurde klar, was dies bedeutete: Solange der Krieg mit den Drachen andauerte, durfte er sein Herz nicht verschenken. Doch wie lange würde das dauern? Gingarod schüttelte stumm seinen Kopf, denn er wusste, dass mit dem ersten getöteten Drachen ein Krieg begonnen hatte, der vielleicht niemals einen Sieger haben würde.

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© 2014 Bernhard Weißbecker
 
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