Die Rückkehr des FROST - Bernhard Weißbecker

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Die Rückkehr des FROST

Kurzgeschichten
Das Dorf Frostheim kauerte sich an den Fuß des Eishügels, südlich vom Kalten Fluss. Es lag weiter im Norden als alle anderen Dörfer des Landes, und so erschien es - von jenen aus gesehen - als würden Eis und Schnee jedes Jahr von Frostheim aus ihren Feldzug in den Süden beginnen. Trotzdem war der Name ein wenig irreführend, denn in Frostheim war es das Jahr hindurch kaum kälter als in den anderen Dörfern und Städten des Landes. Und vor allem war es nicht die Heimat von FROST, doch von IHM will ich später berichten. Frostheim war nur ein kleines Dorf, und die Menschen, die darin lebten, klagten oft über die Härte des Lebens. Eigentlich ging es den Leuten dort auch nicht schlechter als sonstwo im Lande, doch das Klagen lag nun einmal in der Natur der Menschen. Das Dorf bestand aus drei Dutzend Hütten, die sich um einen kleinen Tempel herum drängten, und ein paar verstreuten Höfen entlang des Kalten Flusses. Die meisten Bewohner waren Bauern, und entgegen all ihrer Klagen brachten sie jedes Jahr eine Ernte nach Hause, von der es sich gut genug leben ließ, und auch der Schmied und der Küfer, der Schlachter und der Müller hatten ihr Auskommen.
Nur Ella war anders als die übrigen Bewohner von Frostheim. Sie lebte alleine in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes, doch die meiste Zeit streifte sie umher durch Wälder, Wiesen und Felder. Sie kannte sich aus mit Pflanzen und Kräutern, die Linderung bringen konnten bei allerlei Krankheiten. Die Bauern des Ortes zogen sie manchmal zurate, wenn eines ihrer Tiere krank war. Denn mit Tieren war Ella sehr vertraut und in dem Dorf hieß es gar, dass sie zu ihnen sprechen könne. Gelegentlich baten auch kranke Menschen die junge Frau um ein Kraut oder einen Trank, doch sie taten dies nur im Verborgenen, denn der Priester hatte ihnen gepredigt, dass sie wahre Heilung nur in Gott finden würden.
Ella war eine schöne Frau - hochgewachsen und schlank, mit langen schwarzen Haaren. Wenn sie des Weges kam, ließen Bauernsöhne und Handwerksburschen ihre Arbeit liegen, um ihr verträumt hinterher zu sehen. Doch nicht nur Blicke folgten ihr, sondern auch viel Gemurmel und böse Worte - meist von den Müttern der jungen Männer, die ihre Augen nicht von Ella abwenden konnten.
Und so nahmen die Jahreszeiten ihren Lauf. Vom Frühling bis zum Herbst war das Leben der Menschen bestimmt von Getreide und Kartoffeln, von Bohnen und Lein. Doch wenn der Winter kam, dann ruhte die Arbeit auf den Feldern und die Dörfler hatten noch mehr Zeit für ihre Sorgen und Nöte. Sobald das Licht des Tages schwand, setzten sie sich an ihre Feuer und sie verbrachten die langen Abende damit, Geschichten auszutauschen. Sie erzählten sich Geschichten über FROST, den Fürsten des eisigen Landes, das nördlich des Kalten Flusses lag. Sie erzählten von lange vergangenen Wintern, in denen der Fluss zugefroren war, der sonst die Wölfe und andere Kreaturen der eisigen Öden von dem Dorf fernhielt. Doch nur die ältesten konnten sich an einen derart harten Winter erinnern, und FROST schien zu schlafen, schon seit langer Zeit.
Und so lebten die Menschen in Frostheim jahrein und jahraus. Bis eines Jahres ein Winter kam, wie ihn das Dorf schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Dächer der Häuser ächzten unter der Last des Schnees und die Kälte ließ die Herzen der Menschen erstarren. Nur die Kinder freuten sich über den Winter, und fröhlich tobend bewarfen sie sich mit Bällen aus Schnee. Oft war Ella unter ihnen und sie war genauso fröhlich und verspielt wie die Kinder. Eines Tages kam Ella an dem Haus des Bürgermeisters vorbei, der einer der wenigen war, die kostbare Fenster aus blankem Glas besaßen. Und sie blickte staunend in das Fenster, in dem sich die Kristalle des Eises zu seltsamen Formen geordnet hatten.
»Seht nur«, sprach sie da, zu niemandem im Besonderen. »Wie kann FROST so grausam sein, wie ihr sagt, wenn er uns doch diese wunderschönen Blumen schenkt?« Und in ihrem Herzen machte sie sich ein Bild von FROST als einem mächtigen Mann mit silbernen Haaren, einem Mantel aus weißem Pelz und einer Krone aus Eis. Die Menschen, die ihre Worte gehört hatten, schüttelten ärgerlich die Köpfe über so viel Unverfrorenheit und sie murmelten Segenssprüche vor sich hin, um sich vor dem FROST zu schützen. Doch Ella machte sich nicht viel daraus, was die Leute von ihr dachten, und die Leute machten sich nicht viel aus Ella. Bis zu dem Tag, als der FROST zurückkehrte. An den Ufern des Flusses hatte sich schon seit Tagen Eis gebildet, doch immer noch war eine breite Rinne geblieben, in der das Wasser ungehindert fließen konnte. Dann, eines Nachts, hörten die Menschen im Ort das Heulen der Wölfe in großer Nähe, und da wussten sie, dass es nun wieder einmal geschehen war. Der Fluss war zugefroren und die Geschöpfe des Nordens konnten ungehindert in das Dorf gelangen. Irgendjemand, der nachts noch eine Erledigung zu machen hatte, sah Ella am offenen Fenster stehen, als er an ihrem Haus vorbei kam. Sie lauschte dem Lied der Wölfe und wiegte sich langsam in seinem getragenen Rhythmus. Diese seltsame Beobachtung machte schnell die Runde unter den Dörflern und erreichte bald auch das Ohr des Priesters. Nach der nächsten Predigt sammelte er die bedeutendsten Männer und Frauen des Ortes um sich, um mit ihnen zu beraten.
»Es heißt«, sagte einer der alten Männer, »dass in früheren Zeiten dem FROST eine Jungfrau geopfert wurde, um ihn milde zu stimmen.« Sein Blick verriet, wen er als passendes Opfer auswählen würde. Natürlich widersprach der Priester des Örtchens diesem Vorschlag, denn er hielt ihn für barbarisch und roh.
»Ihr Heiden!«, rief er. »Wollt ihr einen Gott aus diesem Dämon machen, indem ihr ihm ein Opfer bringt? Ein solches Opfer geziemt nur unserem allmächtigen und barmherzigen Gott. Zu seinen Ehren sollt ihr sie verbrennen.«
Der Vorschlag des Priesters erregte einiges zustimmendes Gemurmel, vor allem von den Frauen, denn ihnen war Ella schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Doch auch einiges Murren war zu hören, zumeist von den Männern, denn sie wären es gewesen, die das Brennholz für dieses Freudenfeuer hätten beschaffen müssen. Und so einigte man sich schließlich darauf, Ella am Rande des Öden Landes an einen Baum zu fesseln und sich selbst zu überlassen. Das Übel wäre damit aus dem Dorf verbannt, und wenn Gott die Gelegenheit nicht nutzen würde, Ella zu strafen, so konnte FROST immer noch zu seinem Opfer kommen. Und so geschah es. Man band Ella mit einem rauen Strick an eine verkrüppelte Kiefer, die wie ein mahnender Finger am Ufer des Kalten Flusses stand. Die Henkersgesellschaft beeilte sich, ins Dorf zurückzukehren, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Die Furcht vor den Kreaturen, die nachts über den zugefrorenen Fluss gekrochen kamen, lag zu tief in ihren Herzen. Ella blieb zurück, verwirrt ob der unerwarteten Wendung ihres Schicksals, doch nicht notwendigerweise verzweifelt oder voller Angst. Im Gegenteil - die Rufe der Dörfler, dass man sie zu FROST bringen würde, hatten eine freudige Erwartung in ihr ausgelöst. Man war so freundlich gewesen, sie mit dem Blick nach Norden zu fesseln, so dass sie den vereisten Fluss und das Öde Land dahinter überblicken konnte. Ödes Land? Sie sah eine weite Fläche von reinstem Weiß, auf der eine Unzahl von Eiskristallen im Licht der Sonne funkelten. Es war wunderschön. Es verging ungefähr eine Stunde, ohne dass FROST sich sehen ließ. Ella begann nun doch ein wenig zu frösteln, denn ihr Kleid war nicht warm und sie war bewegungslos an den Stamm des Baumes gefesselt. Doch noch immer verspürte sie weder Angst noch Sorge. Eine weitere Stunde verging, und nun endlich begann Ella ungeduldig zu werden. Eine kleine Schar von Meisen flatterte nahebei in einem Busch herum und Ella rief sie zu sich, denn es war wahr, dass sie zu den Tieren sprechen konnte. Die Meisen kannten die junge Frau gut, denn sie hatten oft den einen oder anderen Leckerbissen von ihr erhalten. So waren sie gerne bereit, Ella zu helfen, und sie pickten so lange an ihren Fesseln, bis sie in kleine Fasern zerrissen waren. Ella war frei und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, wo die Stricke sich in ihre zarte Haut eingeschnitten hatten. Sie ging ein wenig auf und ab, bis sie sich wärmer fühlte, doch sie blieb in der Nähe des Baumes, um es nicht zu versäumen, wenn FROST doch noch käme.
Doch es schien so, dass FROST die Gelegenheit nicht nutzten wollte, sich sein Opfer zu holen. Und auch Gott hatte offenbar darauf verzichtet, Ella zu strafen - sei es aus Güte oder aus Gleichgültigkeit. Vielleicht war es tatsächlich Güte, und er war es gewesen, der zur rechten Zeit die Meisen herbeigeschickt hatte. Doch wer mag das wissen? Ella war ein wenig unschlüssig, was sie nun tun sollte. Es schien ihr keine gute Idee zu sein, ins Dorf zurückzukehren - doch wohin sonst sollte sie sich wenden? Ein paar Meilen weiter den Fluss hinunter gab es ein anderes Dorf, aber die Menschen dort waren auch nicht anders als die in Frostheim. Doch Ella dachte gar nicht daran, dem Fluss nach Süden und Westen zu folgen. Ihr Sinnen war nach Norden gerichtet - über den Fluss, in das Reich von FROST. Sie ging zum nahen Ufer und schaute sehnsuchtsvoll hinüber. Die tief stehende Sonne leuchtete rötlich auf großen Platten aus Eis, doch noch gab es Risse zwischen ihnen, aus denen eisiges Wasser hervor sickerte. Ella zögerte, ihren Fuß auf die Eisfläche zu setzen, denn sie war sich der Gefahren durchaus bewusst - auch wenn sie sich vielleicht nicht wirklich im klaren darüber war, dass es ihr Tod wäre, wenn sie die Nacht ungeschützt im Freien verbrächte. Dann vernahm sie das Heulen der Wölfe, ganz in ihrer Nähe, und sie ging unerschrocken los, um die wilden Tiere zu treffen. Die Wölfe hatten längst Ellas Witterung aufgenommen, doch sie waren noch unschlüssig, ob der fremdartige Duft sie zu Freund, Feind oder Beute führen mochte. Als die Wölfe heran waren, ließ Ella sich auf ein Knie sinken und sie sprach Worte der Freundschaft zu ihnen. Der Anführer des Rudels verstand nur wenig von der Rede der jungen Frau, denn die Sprache der Wölfe ist wilder als die der anderen Tiere. Doch ein Wort verstand er - den Namen FROST - und so beschloss er, sie zu IHM zu bringen.



In der Nacht wärmten die Wölfe die junge Frau mit ihren pelzigen Körpern, und am nächsten Morgen zeigten sie ihr einen sicheren Weg über den Fluss. Den Tag hindurch führten sie sie durch eine Landschaft aus Eis und Schnee, zwischen Bäumen hindurch, deren Äste mit Eis überzogen in der Sonne funkelten und über zugefrorene Seen, in denen seltsame Kreaturen die Wanderer durch das dicke Eis hindurch anstarrten. Schließlich, als die Sonne schon ihren höchsten Punkt überschritten hatte, begegneten sie einem einsamen Reiter auf einem weißen Pferd. Es war FROST und er sah genauso aus, wie Ella ihn sich vorgestellt hatte. Er war bleich und schön, gekleidet in weißen Pelz, und die Krone auf seinem Kopf war aus Eis. Das stattliche Pferd war weiß wie Schnee, und aus seinen Nüstern drangen Wolken von glitzernden Eiskristallen. FROST stieg von seinem Ross und trat der jungen Frau entgegen, doch er blieb stumm, sei es vor Staunen oder aus Verärgerung über das unerlaubte Betreten seines Landes. Ella senkte verlegen ihren Blick, denn die Herrlichkeit von FROSTs Erscheinung blendete sie.
»Warum bist du nicht gekommen, um mich zu holen?«, fragte sie endlich, als FROST keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen.
»Dich holen?« Seine Stimme war wie Eis. »Wo hätte ich dich holen sollen?«
»Am Ufer des Flusses«, sagte sie, immer noch mit gesenktem Blick. »Mein Dorf möchte, dass du mich als Geschenk annimmst, auf dass dein Zorn dadurch gemildert würde.«
»Die Menschen und ihr Dorf bekümmern mich nicht.« FROSTs Stimme war kalt wie ein Wind aus dem Norden. »Ich empfinde weder Zorn noch Liebe für sie. Und ich lege keinen Wert auf kreischende Opfer, die sie mir an die Bäume binden.«
»Ich kreische nicht«, sagte Ella. »Ich bin bereit, dir zu dienen ohne zu klagen.«
»Ja, du bist anders als die anderen Menschen.« FROST fasste mit einer Hand nach Ellas Kinn und drehte ihr Gesicht, so dass sie ihn ansehen musste. Seine eisige Berührung brannte wie Feuer auf ihrer Haut, doch sie spürte es kaum, so fasziniert war sie von seiner Erscheinung. Und auch FROST wurde von fremden Gefühlen gepackt, denn die Berührung von Ellas warmer Haut drang durch seine kalten Finger direkt in sein Herz. Gleichzeitig weiteten sich staunend seine Augen, als er erkannte, wie schön sie war.
»Du kannst nicht leben, hier in diesem Land«, sagte er endlich und es lag ein Hauch von Wärme in seiner Stimme. »Du musst mein Reich verlassen, bevor die nächste Nacht hereinbricht.«
Nun weinte Ella und sie bat FROST, sie nicht wegzuschicken. Doch er wandte sich ab und schwang sich auf sein Pferd und verschwand in einem Wirbel aus Wind und Schnee. Die Wölfe blieben bei Ella und brachten sie zurück an das Ufer des Flusses. Noch einmal verbrachte sie eine Nacht mit den wilden Tieren und am nächsten Tag kehrte sie in ihr Haus zurück, so als sei nichts geschehen. Die Menschen waren erstaunt über Ellas Rückkehr, denn auch wenn es keine verlässlichen Berichte über frühere Präzedenzfälle gab, so hatte doch keiner daran gezweifelt, dass FROST seine Opfer nicht lebend würde entkommen lassen. Die Dörfler tuschelten viel hinter Ellas Rücken, aber keiner fragte sie, wie es ihr im Öden Land ergangen war. Doch tatsächlich wurde es von Tag zu Tag wärmer, und so nahmen sie an, dass FROST in der einen oder anderen Weise erhalten hatte, was er begehrte. FROST war tatsächlich wie verwandelt, seit er Ella getroffen hatte. Doch es war sicher keine Dankbarkeit gegenüber den Dorfbewohnern, die ihn veranlasste, das Dorf nun mit weiterem Eis und Schnee zu verschonen. Er hatte lediglich andere Dinge im Sinne und bald zog er sich in das ferne Reich im Norden zurück, das die Zuflucht des EISES ist, wenn in der Welt der Frühling einzieht. Im Dorf war man froh, dass der Winter unerwartet früh das Feld geräumt hatte und ein warmes und sonniges Frühjahr bevorstand. Die Bauern klagten wie jedes Jahr über ihre harte Arbeit, während sie einer ungewöhnlich reichen Ernte entgegenblickten. Auch der Schmied und der Küfer, der Schlachter und der Müller hatten genügend zu tun, um ihre Klagen nicht ungerechtfertigt erscheinen zu lassen. Nur Ella war weniger froh als gewöhnlich, doch immer noch klagte sie nicht - oder wenn sie es doch tat, dann nur verschlossen in ihrem Herzen. Als sich an den Herbst ein milder und regnerischer Winter anschloss, schien es den Menschen in Frostheim, als sei FROST nun tatsächlich auf Dauer besänftigt. Man beglückwünschte sich zu der weisen Entscheidung, dass man Ella nicht verbrannt hatte, denn offensichtlich war das erbrachte Opfer in der gewünschten Weise angenommen worden. Und Ella war sogar zurückgekehrt, so dass man hoffen konnte, sie bei Bedarf noch das eine oder andere Mal gebrauchen zu können, falls FROST wieder einmal zürnen sollte.
Ella hatte das ganze Jahr hindurch voller Sehnsucht auf die Rückkehr des Winters gewartet, und sie war enttäuscht, als er nun kühl und feucht dahinsiechte. Sie vermisste die Blumen aus Eis, die FROST ihr im Jahr zuvor geschickt hatte. Sie vermisste es, mit bloßen Füßen durch Eis und Schnee zu stapfen. Und sie vermisste die eisige Berührung von FROST auf ihrer Haut. Mehr und mehr versank sie nun in Traurigkeit. Nur die Dörfler waren froh, entgegen ihrer Gewohnheit, denn der Winter blieb so mild wie er begonnen hatte. Schon glaubten sie, dass FROST erneut in einen Schlaf gesunken sei, und sie hofften, dass dieser genauso lange dauern würde wie der letzte. Doch dann, eines Nachts, als die Tage bereits wieder deutlich länger wurden und man sich im Dorf schon auf das Frühjahr freute, wehte ein kalter Wind aus dem Norden, und am nächsten Morgen war das Land in Eis und Schnee gehüllt. Der Fluss trug Eisschollen aus dem Norden herbei, die sich zu einer geschlossenen Decke vereinten. In der folgenden Nacht ließ das gespenstische Heulen der Wölfe die Dörfler ängstlich in ihren Kammern verweilen. Erst am nächsten Morgen, als die Sonne unbekümmert von den Geschehnissen der Nacht in den Himmel stieg, wagten sich die Menschen wieder ins Freie. Und so fanden sie die Spuren zahlreicher Wölfe im Schnee, rund um Ellas Haus herum. Doch Ella war verschwunden und niemand im Dorf hat sie jemals wieder gesehen.
Die Dörfler machten sich nicht allzu viele Gedanken um Ellas Schicksal, denn sie waren zur Genüge mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Und Sorgen hatten sie reichlich, denn von diesem Jahr an war FROST tatkräftiger als je zuvor, und jeden Winter bedeckte er das Land mit einer dicken Decke aus Schnee und Eis. Ein wenig vermisste man Ella allerdings doch, denn nun stand sie nicht mehr zur Verfügung, um FROST zu besänftigen. Stattdessen diente sie als abschreckendes Beispiel in den Märchen, die man den Kindern erzählte. In diesen Märchen starb Ella einen schrecklichen Tod in der Wildnis und der Schnee war ihr Leichentuch. Natürlich hatte sie es nicht besser verdient, denn sie war ungehorsam gegen ihre Eltern und den Priester und überhaupt gegenüber allen respektablen Personen des Dorfes. Niemand im Dorf hatte einen Anlass, an dieser Geschichte zu zweifeln - weder die Kinder, die sie zu hören bekamen, noch die Erwachsenen, die sie erzählten.
Doch wer weiß - womöglich hat es sich auch anders zugetragen. Vielleicht hatte FROST - entgegen seiner Gewohnheit - den Sommer vor Ellas Verschwinden nicht im äußersten Norden verbracht, der die Heimat aller Kreaturen des Winters ist. Vielleicht hatte er seine eigene eisige Existenz aufs Spiel gesetzt, um etwas zu lernen über das warme und pulsierende Leben der Menschen. Vielleicht hatte er sich bisher ungeahnten Künsten der Magie gewidmet, die die Unvereinbarkeit von Blut und Eis überwinden sollten, um Ella auf Dauer in sein frostiges Reich zu holen. Und - vielleicht - ist ihm dies sogar gelungen.
Doch natürlich kam niemand in dem Dorf auf die Idee, so etwas Unsinniges zu vermuten.

Erschienen in: Winterwelt - World of Fantasy / INTRAG 2003

 
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